Reiner Stachs große Biographie: Kafkas Geheimnis auf der Spur

Auf der Titelseite des Bandes, der die frühen Jahre Franz Kafkas behandelt, wird der ungarisch-jüdische Literaturnobelpreisträger Imre Kertész zitiert: „Das Beste, was in diesem Genre geleistet werden kann. Selbst ein Roman.“ Ein hohes Lob.

Der Biograph begann mit dem zweiten Band, erst am Schluss seiner Arbeit schrieb er über die frühen Jahre Franz Kafkas.

2024 ist ein Kafka-Jahr. Am 3. Juni 1924 verstarb der Prager „Magier der Ängste“ (so der Publizist Klaus Harpprecht) in Kierling, Klosterneuburg, Österreich.

Kein anderer Autor der Weltliteratur hat eine vergleichbare Wirkungsgeschichte. Ungezählte Schriftsteller wollten schreiben können wie Kafka. Aber niemand kann schreiben wie Kafka.

Die dreibändige Kafka- Biographie von Reiner Stach, sicher ein bahnbrechendes Werk, beginnt nicht mit den Urgroßeltern des Dichters, sondern mit einem Panorama der Stadt Prag, einem Ausflug über seine Plätze und durch seine Straßen, und in seine Geschichte. „Das alte Zentrum der Stadt Prag ist eine Bühne.“ Hier beginnt das Drama von Kafkas Leben.

Der junge Kafka ist ein Vorzugsschüler. Aber das Gymnasium ist ein Schreckensort. Der junge Kafka fehlt häufig wegen Krankheit. Der Vater, Leiter eines Galanteriewarenladens , ist übermächtig.

Mit 12 oder 13 Jahren stand für ihn fest, dass er Schriftsteller werden will. Das verbindet ihn mit Hermann Hesse, demzufolge Kafka „ein heimlicher Meister und

König der deutschen Sprache“ war. Hesse verehrte Kafka sehr.

„Die Anfänge des schreibenden Kafka liegen fast völlig im Dunkeln“, schreibt Reiner Stach, „und seine „Kindersachen“ wie er sie schon wenige Jahre später nennen wird, vernichtete er, ehe wohlmeinende Freunde sich dafür hätten interessieren können.“

Der 14 jährige Kafka erlebt den „Dezembersturm“ in Prag mit. Steine fliegen in jüdische Geschäfte und Wohnungen. „Eine Plünderung der ausgedehnten Lagerräume in der Zentnergasse hätte den Ruin der Familie bedeutet.“

Welches Studienfach soll er wählen? Es steht fest, dass er nicht die väterliche Firma übernehmen, sondern studieren würde. „Eine eigentliche Freiheit der Berufswahl habe er nicht gehabt, klagte er gern. Gewiss doch, kein Jude hatte die.“

Über den achtzehnjährigen Kafka schreibt Stach: „Sein Interesse war nicht ausschließlich, aber immer stärker auf Literatur gerichtet.“

Das Schloss als Metapher des labyrinthischen Seelenlebens war eine seiner ersten großen, genuin literarischen Erfindungen. Kafka hat rätselhafte Romane und Erzählungen geschrieben. Ihrem Geheimnis ist Stach auf der Spur.

Lange Zeit hat Kafka gezögert, seinen Freund, den Schriftsteller Max Brod, in seine literarischen Ambitionen einzuweihen. „In den Salons der Familien Weltsch und Fanta war er ein gern gesehener, charmanter und aufmerksamer Zuhörer, doch weder wäre er auf den Gedanken verfallen, dort eigene literarische Übungen zum Besten zu geben, noch vermutete irgendjemand in ihm einen Poeten.“

„Beschreibung eines Kampfes“ ist eines seiner ersten literarischen Projekte: „Tatsächlich tauchen bereits hier einige charakteristische Motive seines Erzählens auf, freilich noch isoliert und mit nur angedeutetem literarischen Potential. So etwa die Metapher des Kampfes, die in Kafkas privatem Mythos einmal eine zentrale Rolle spielen wird, ein nicht eingelöstes Versprechen.“

Stach ist ein äußerst genauer Biograph: „Am Morgen des 30. Juli 1908, gegen 7.45 Uhr machte sich Kafka zum ersten Mal auf den Weg zu seinem neuen Arbeitsplatz [in der Arbeiterunfallversicherungsanstalt]. Warm war es, aber trüb und feucht, sogar ein wenig neblig. Er ging die Niklasstraße entlang, überquerte den Altstädter Ring, dann durchschritt er die Zeltnergasse in ganzer Länge, vorbei an einigen Häusern, in denen er schon gewohnt hatte…. Drinnen gab es einen geräumigen jedoch behäbigen Lift mit eigenem Portier. Später bevorzugte Kafka, der stets einige Minuten zu spät war, den Sprint im Treppenhaus, obwohl sein Büro im obersten Stock lag.“ Das war es wohl, was Imre Kertesz mit „selbst ein Roman“ meinte.

Von der Literatur kann Kafka nicht leben. „Abgesehen von meinen Familienverhältnissen könnte ich von der Litteratur schon infolge des langsamen Entstehens meiner Arbeiten und ihres besonderen Charakters nicht leben.“

Es ist nicht leicht, Kafka für eine Gruppe zu gewinnen. Man muss ihn drängen, damit er eigene Literatur vorträgt. Er ist ein leidenschaftlicher Vorleser, lieber als eigene Texte trägt er fremde vor. Seine Hausgötter: Gustave Flaubert und Thomas Mann, die Perfektionisten der modernen Literatur. Den „Tonio Kröger“ liebte Kafka sehr.

Er ist ein großer Schwimmer.

Das Tagebuch hat eine ganz eigene Form: die Grenzen zwischen privater Aufzeichnung und Literatur verwischen. Das Tagebuch als Vorhof der Literatur. Das gilt auch für die Briefe: „ungezählte Briefe wird er verfassen, die ebenfalls genau dort entstanden sind, in einer Zone, in der das Biographische in Literatur transformiert wird.“

Brods Hinwendung zum Zionismus wurde „nicht durch einschlägige Lektüren veranlasst, sondern durch das persönliche Erscheinen Martin Bubers in Prag, des einflussreichsten Vertreters der Kulturzionismus“.

Auch Rudolf Steiner taucht in Prag auf, eine charismatische Figur. Er redet frei. Dass Kafka mit dem magischen Steinertheater etwas anfangen konnte, ist unwahrscheinlich.

Im Tagebuch notiert Kafka: Er fühle sich von der „Teosophie“ angezogen, gleichzeitig aber fürchte er sie.

Auch Albert Einstein kommt nach Prag. Der angehende Schriftsteller und der geniale Physiker sind einander wohl begegnet.

Stach ist ein kluger Literaturwissenschaftler, aber kein glänzender Stilist. Doch er befindet sich immer auf der Höhe seines Gegenstands. Er bringt das Wissen um Kafka auf den neusten Stand. Genauer kann man über einen Schriftsteller nicht schreiben. Wer erschöpfend über Kafka informiert sein will, sollte zu diesen dicken Bänden greifen. Sie sind jetzt als Taschenbuchbox erhältlich. Die Besprechung der Bände zwei und drei erfolgt im neuen Jahr.

Reiner Stach: Die Kafka-Biographie in drei Bänden: Die frühen Jahre, Die Jahre der Entscheidungen, Die Jahre der Erkenntnis. Fischer Taschenbuch Verlag, 2023. 2048 S., 49 Euro.

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