„Es war wieder Adventszeit“, heißt es am Anfang eines Romankapitels lakonisch, aber beim Erzähler stellt sich keine Vorweihnachtsstimmung ein. Das ist nicht verwunderlich: Leo, ein junger Deutscher aus Siebenbürgen, ist seit drei Jahren Zwangsarbeiter in einem russischen Lager und denkt nicht an Kerzen, Weihnachtsbäume oder Geschenke. Für ihn und die Kameraden geht es Tag für Tag ums nackte Überleben, auch vor Weihnachten. Auf jeder Seite von Herta Müllers großem Roman „Atemschaukel“ ist vom Überlebenskampf die Rede, vor allem vom peinigenden Hunger und den Demütigungen des Lageralltags. „An die zwanzig Frauen waren auf dem Feld verstreut. Sie hatten keine Werkzeuge, sie gruben die Kartoffeln mit den Händen aus der Erde. Der Wachposten wies mir eine Reihe zu. Ich schaufelte mit den Händen, der Boden war hart. Die Haut platzte, in den Wunden brannte der Dreck. Wenn ich den Kopf hob, flogen Schwärme flimmernder Punkte vor meinen Augen.“ Müllers Sprache ist ohne Wehleidigkeit, sie besitzt eine gewissen Härte. Auch bei der Lektüre stellt sich keine Adventsstimmung ein (im Kapitel, das vom Advent handelt, stirbt eine Figur).
Die Geschichte des jungen Leo beginnt so: „Es war 3 Uhr in der Nacht zum 15. Januar 1945, als die Patrouille mich holte. Die Kälte zog an, es waren -15 C.“ In Viehwaggons wird der 17jährige mit anderen Deutschen nach Russland deportiert. „In einem Viehwaggon schrumpft jede Eigenart.“ Die Menschen magern nicht nur ab, sie verlieren ihren Körper (so ein Bild). Sie sind Schatten wie in der Unterwelt, im Lager herrscht Zeitlosigkeit (die Romanhandlung steht oft still). Bücher von Goethe und Nietzsche hat der Erzähler mitgenommen, sie wären völlig bedeutungslos, könnte er ihre Seiten nicht als Zigarettenpapier gegen eine Ration Salz oder Zucker tauschen. Die Literatur ist im Lager fern. Der Besitz von Papier ist strengstens verboten.
Am Anfang des Romans erfährt man dessen Ende: Die Großmutter hat kurz vor dem Abschied zum Erzähler gesagt: „ICH WEISS DU KOMMST WIEDER.“
Und der junge Mann knüpft daran folgende Bemerkung: „Ich habe mir diesen Satz nicht absichtlich gemerkt. Er hat in mir gearbeitet, mehr als alle mitgenommenen Bücher. ICH WEISS DU KOMMST WIEDER wurde zum Komplizen der Herzschaufel und zum Kontrahenten des Hungerengels. Weil ich wiedergekommen bin, darf ich sagen: So ein Satz hält einen am Leben.“
In diesem Roman von Herta Müler geht es um die nackte Existenz (die Lagerinsassen werden immer wieder als Wesen aus Haut und Knochen beschrieben), wenn Leo nach fünf Jahren aus dem Lager entlassen wird und in die Heimat zurückkehrt, wo er versucht, Fuß zu fassen, was ihm nicht gelingt. Herta Müller gelingt es, das Geschehen in einzelnen Sätzen zu verdichten: „Es gibt Wörter, die machen mit mir, was sie wollen.“ Oder: „Ich träume nur, wenn ich wach bin.“ Kurz nach Erscheinen dieses Romans gab die schwedische Akademie bekannt, dass Herta Müller 2009 den Nobelpreis für Literatur erhalten werde. Im August wurde sie 70 Jahre alt.
Herta Müller. Atemschaukel. Roman. Hanser Verlag, 2009