Karlmann Renn feiert seinen sechzigsten Geburtstag. Eine illustre Gesellschaft hat er um sich versammelt. Auch der demente Vater oder das was von ihm übrig geblieben ist, ist anwesend, im Rollstuhl. So beginnt der neue Roman von Michael Kleeberg, mit dem er seine Karlmann-Renn-Trilogie abschließt. Er trägt den Titel „Dämmerung“. Schauplatz der Feier ist der Golfclub Beidermoor, Charly ist ein leidenschaftlicher Golfer, im Gegensatz zu seinem Erfinder Michael Kleeberg. Die unterschiedlichsten Persönlichkeiten treffen bei dieser Feier aufeinander. Das wichtigste Thema: die Erfahrung des Alterns. „Die Jugend ist das Paradies. Und aus diesem Paradies hat uns nichts je wirklich vertreiben können, auch nicht das Alter.“ Kleeberg nimmt sich Zeit zur Schilderung der Geburtstagsparty. Von Anfang an ist der Roman ein Gesellschaftsroman. Dissonanzen sind nicht zu überhören: „Ich meine, wenn wir gewusst hätten, dass hier ein Typ von der AfD …“
Der Erzähler formuliert gelegentlich unbekümmert. So ist von einer „Charmeoffensive“ die Rede, eine verbrauchte Journalistenvokabel. Das Besondere: der Erzähler spricht mit seinen Figuren.
„Es dauerte fast zwei Jahre, bis Karl Renn an sich selbst zunehmend Vergesslichkeiten wahrnahm. Dann aber schritt der Verfall immer schneller voran.“ Man organisiert eine Vierundzwanzig-Stunden-Pflegerin.
Die Kinder haben ihre Mutter geliebt: denn „sie war sanft und bescheiden und altruistisch“. Tochter Erika: „Mir ist erst seit ihrem Tod bewusst geworden, wie tief sie mich geprägt hat.“
Auf der Geburtstagsfeier werden Reden gehalten: „Ich danke Euch für die Ehre, die ihr mir antut. Ihr wisst, ich neige nicht zum Überschwang.“ Damit charakterisiert Charly sich selbst. Er hat nicht nur sympathische Züge: „Charly hat sein ganzes Leben lang immer nur Schluss gemacht, wenn bereits Ersatz gefunden war.“
Und er ist eine gespaltene Persönlichkeit. „Ach, weißt du, es gibt mehrere Charlys, zumindest zwei. Der Freund und der Liebhaber, das sind zwei Typen, so unterschiedlich wie Dr. Jekyll und Mr. Hyde.“
Auf 170 Seiten wird der 60. Geburtstag gefeiert. Kleeberg zieht alle Register des Erzählens. In „Dämmerung“ befindet er sich auf der Höhe seiner Kunst.
Die Weltliteratur ist anwesend. Noch nie war Thomas Mann so präsent. Es wird der Anfang der „Buddenbrooks“ zitiert und, am Ende, das Finale des „Zauberbergs“. Gegen Ende taucht eine bildhübsche, hoch gebildete Türkin auf, und da nimmt der Roman noch einmal Fahrt auf: „Mit dem Flirten ist es folgendermaßen bestellt.“ Am Ende der Buddenbrooks heißt es: „Mit dem Typhus ist es folgendermaßen bestellt“: Das Zitat zeigt es: Das „Flirten“ wird wie der Typhus nicht gut ausgehen. Das ist nur ein Thomas-Mann-Zitat, es gibt noch viel mehr.
Die große Sterbeszene Karl Renns erinnert in ihrer beklemmenden Genauigkeit an vergleichbare Szenen Thomas Manns. Ausführlich wird auch die Trauerfeier für Karl Renn beschrieben. Vertreter der Stadt sind gekommen, um von dem „großen Sohn der Stadt“ Abschied zu nehmen. Karl Renn war lange Jahre Leiter des Lessinghauses. Sogar ein ehemaliger Erster Bürgermeister ist anwesend.
Es gibt aber auch Szenen, die an den besten John Updike oder Philip Roth erinnern. Da ist die Auseinandersetzung mit Charlys widerspenstiger Tochter, die so selten die Schule besucht, dass sie mehrfach sitzen bleibt. Sie ruiniert ihre Gesundheit mit Drogen und bringt den Vater mit ihrem Eigensinn zur Verzweiflung. Sie verbringt ihre Zeit am Computer. Man muss an Philip Roths „Amerikanisches Idyll“ denken. Den Vätern entgleiten die Töchter. Bei Roth verliert der Vater sie an den Terrorismus , bei Kleeberg an die Drogen.
Dem Vater, so die Kinder, hätte die Trauerfeier wohl gefallen. Ein Stadtvertreter geht auf Charly zu: Er stehe ja nun kurz vor dem Ruhestand. Ob er sich nicht vorstellen könne, die Leitung des Lessinghauses zu übernehmen und damit die Arbeit seines Vaters fortzusetzen. Er sei ja ein fähiger Geschäftsführer gewesen. Karlmann geht auf das Angebot ein und bringt die Institution Lessinghaus in die Schlagzeilen. Er reformiert das Lessinghaus, lässt keinen Stein auf dem anderen. Die Veranstaltungen der Einrichtung sind auf einmal Stadtgespräch.
Auf beeindruckende Weise sind Karlmanns Lebensgeschichte und Zeitgeschichte miteinander verwoben. Die Corona-Pandemie ist ebenso ein Thema wie der Überfall Russlands auf die Ukraine. Charly erinnert sich an einen Arbeitskollegen, der aus der Ukraine stammt, und trifft sich mit ihm auf ein Bier. Auf bedrückende Weise schildert der das Leben im Kriegsgebiet.
Karlmann hält vor seinen Mitarbeitern eine Rede: Es geht um die Ukraine.
„Wir haben es hier mit einem brutalen Angriffskrieg zu tun, mit einem Krieg mitten in Europa, direkt an der Grenze zur EU.“
„Ich will, dass wir geflüchtete Ukrainer hier aufnehmen und ihnen bei der weiteren Unterbringung helfen.“
Eine Mitarbeiterin: „Ich meine, wir sind ein Hamburger Kulturhaus. Was haben wir um Himmels willen mit der Ukraine zu tun?“
Vom Krieg handelte ja schon Kleebergs gelungener Roman „Das amerikanische Hospital“. Aber noch nie war ein Krieg so nahe wie in „Dämmerung“: Aus dem Grund veranstaltet Karlmann im Lessinghaus eine Spendenaktion für die Ukraine. 600 000 Euro kommen zusammen. Die Organisatoren sind überglücklich. Aber bei dieser Veranstaltung nimmt der Roman eine unfassbare Wende.
Merkwürdigerweise hat dieser furiose Roman keinen Literaturpreis erhalten. Dieser äußerst belesene Autor hätte längst den Thomas-Mann-Preis verdient. Nicht nur, weil er in „Dämmerung“ dem großen Vorbild immer wieder seine Reverenz erweist.
Auf der zweiten Seite dankt der Autor „dem Deutschen Literaturfond für die Unterstützung bei der Arbeit an diesem Werk“. Deprimierend: einer der besten deutschen Erzähler ist bei der Arbeit an einem Roman auf finanzielle Unterstützung angewiesen.
Michael Kleeberg: Dämmerung. Roman. Penguin Verlag, 2023.