Es geht aufwärts, zumindest für den angehenden Journalisten Hans Beumann. Im ersten Satz des Romans „Ehen in Philippsburg“ befindet er sich in einem Lift, der ihn zu einem mächtigen Chefredakteur empor tragen soll: „In einem überfüllten Aufzug schauen alle Leute aneinander vorbei.“ Ein starker Beginn. Damit hat Walser sein Thema gefunden: Immer wieder wird er von Menschen erzählen, die am Leben oder aneinander vorbeileben. Im autobiographischen Roman „Ein springender Brunnen“, einem seiner wichtigsten Bücher, heißt es: „Wahrscheinlich lebt man gar nicht, sondern wartet darauf, daß man bald leben werde.“
Sie alle wollen nach oben, die den Roman „Ehen in Philippsburg“ bevölkern, ob sie nun abgebrühte Rechtsanwälte, erfolglose Schriftsteller oder einfache Arbeiter sind. Hans Beumann kommt aus einem kleinen Dorf am Bodensee in die große Stadt, entschlossen, Karriere zu machen. Schnell wird er in die bessere Gesellschaft eingeführt, der er sich anzupassen weiß. Walser nimmt diese Oberschicht in den Blick: „Was war die Gesellschaft anderes, als eine freiwillige Vereinigung wohlhabender Leute, die einander angenehme Sätze sagen.“ Angenehme Sätze sind Walsers Sache nicht. In dem Roman gibt es immer wieder Sätze oder Szenen, die einen verstören. Nicht nur die Erfolgreichen nimmt sich Walser vor, nicht nur die Ärzte, Juristen und Rundfunkintendanten, sondern auch Vertreter der Unterschicht, Putzfrauen etwa.
Sein Thema verliert er nicht aus dem Auge: Ehen werden geschlossen, weil man aufsteigen will. Ehen werden aufrechterhalten, obwohl man eine Geliebte hat. Die meisten Ehen dieses Romans sind keine. Beumann hat seine Lektion schnell gelernt: Er hat die Industriellentochter noch nicht geheiratet, da hat er sie schon betrogen.
In seinem späteren Werk würde Walser immer wieder über Ehen schreiben: in seinem schmalen Meisterwerk „Ein fliehendes Pferd“ zum Beispiel oder im späten Roman „Der Augenblick der Liebe“.
Vier Teile besitzt der Roman „Ehen in Philippsburg“, in jedem Teil steht eine andere Figur im Mittelpunkt. Mit ihren Augen wird die Welt gesehen, das hat Walser bei Kafka gelernt. Über den Prager „Magier der Ängste“ (Klaus Harpprecht) hat er in Tübingen promoviert.
Menschen verfehlen einander, leben nebeneinander her: das ist ein wichtiges Motiv Martin Walsers. Oft entpuppen sich in seinem Werk langjährige Freundschaften als Täuschung. „Ohne einander“, so lautete ein Romantitel des Bodenseeautors aus dem Jahr 1993. Walser ist schon in diesem ersten Roman ein glänzender Formulierer. In seinen besten Momenten entdeckt er Details: „Ihre Gesichter waren gerötet, in den vom Wind zerzausten Frisuren hingen gerade vergehende Schneeflocken, die als Tropfen noch eine Weile glänzten.“
Walser vermochte in den folgenden Jahrzehnten seine Brillanz und Prägnanz noch zu steigern. Die Verrisse eines Marcel Reich-Ranickis sollte man nicht allzu ernst nehmen. Walser ist ein starker Erzähler. Man erfährt einiges über die fünfziger Jahre, über die Wirtschaftswunderzeit in Deutschland. Auch in und mit Deutschland geht es aufwärts, insofern ist Hans Beumann eine exemplarische Figur. Ein Held freilich ist er nicht. Und das gilt für die meisten Gestalten Walsers. An seinen Figuren macht er Zeitgeschichte sichtbar, so wurde er zum Chronisten der jungen Bundesrepublik.
Erschienen ist erste Roman Martin Walsers 1957 und erhielt sogleich den Hermann-Hesse-Preis, da war Walser 30 Jahre alt. Im kommenden März steht nun der 95. Geburtstag an. Seine Ehe hält länger als alle Ehen in seinen Romanen: Seit 71 Jahren ist er verheiratet.