Dieser Roman ist ein Mythos, nicht nur, weil ihm die Odysseus-Sage zugrunde liegt. Der Titel dürfte bekannter sein als der Romaninhalt. Die Zahl der Bewunderer übertrifft die der Leser wohl um ein Beträchtliches, so ist es ein sagenumwobenes Buch, ein legendärer Roman der Weltliteratur. Joyce wusste, dass sein „Ulysses“ für alle Beteiligten eine Zumutung war. „Für mich ist es so schwer zu schreiben, wie für meine Leser zu lesen.“
Erschienen ist der Roman vor 100 Jahren, am 2. Februar 1922, auf den Tag genau am 40. Geburtstag des Schriftstellers. Joyce war überzeugt: „Das schönste, alles umfassende Thema ist die Odyssee. Es ist größer, menschlicher als Hamlet, Don Quichotte, Dante, Faust.“ Die Odyssee behandelt die Irrfahrten des Odysseus, ein spannendes Thema. Joyce erinnert sich: „Ich war zwölf Jahre alt, als wir in der Schule den Trojanischen Krieg behandelten, nur die Odyssee blieb bei mir haften.“ Mit der Gestalt des Odysseus brachte er die strahlende Mittelmeerwelt in das düstere Dublin.
Viele Menschen, die ihn kennen lernten, hatten eine hohe Meinung von ihm, die höchste Meinung von ihm freilich hatte er selbst. Der spätere Nobelpreisträger William Butler Yeats bemerkte über den jungen Joyce: Er habe nie so viel Anmaßung bei so wenig zum Vorweisen erlebt. Joyce sagte einmal, würde Dublin durch ein Unglück dem Erdboden gleich gemacht, könne man es anhand seines Buches wieder aufbauen. Wo auch immer sich Joyce aufhielt, er schrieb über Dublin.
Wer sich dem „Ulysses“, diesem hoch komplexen Romanwerk, nähern will, tut gut, die umfassende Joyce-Biographie von Richard Ellmann zur Hand zu nehmen. Das ist nur scheinbar ein Umweg zum Hauptwerk. Ellmann weist nach, wie viel Joyce aus seinem Leben übernommen hat. Es ist eine der gründlichsten Schriftstellerbiographien. Der Biographie geht jedem Lebensdetail nach, das den Weg in die Literatur fand, verzettelt sich aber nie.
Der irische Schriftsteller wurde gefragt, warum er den Titel „Ulysses“ gewählt habe, und er antwortete lapidar: „Das ist mein Arbeitssystem.“
Seine Entdeckung: das Gewöhnliche ist das Außergewöhnliche. Es gibt nichts Interessanteres als das Alltägliche. Gegenüber der amerikanischen Schriftstellerin Djuna Barnes stellte er fest: „Ein Schriftsteller sollte nie über das Außergewöhnliche schreiben. Das ist recht für einen Journalisten.“
Als er einmal sehr gelobt wurde: „Machen Sie keinen Helden aus mir. Ich bin nur ein einfacher Mann aus dem Mittelstand.“
Ein ganz gewöhnlicher Mensch steht im Mittelpunkt von Joyces Hauptwerk: der Annoncenaquisiteur Leopold Bloom. Und es ist ein ganz gewöhnlicher Tag im Dublin am Anfang des 20. Jahrhunderts. Man kann die Zeit der Handlung sogar genau fixieren: Der Roman spielt am 16. Juni 1904: Dieses Datum war aus mehreren Gründen wichtig für Joyce: Der wichtigste: An diesem Tag verliebte sich Joyce in seine spätere Frau Nora Barnacle, auch sie eine alltägliche, durchschnittliche Frau. (Joyce: „Ich hasse intellektuelle Frauen“). Am 16. Juni 1904 unternahmen sie ihren ersten gemeinsamen Spaziergang. „Lebensgeschichte ist´s immer“, sagt der Geheimrat in Thomas Manns Goethe-Roman „Lotte in Weimar“. Viele Facetten Joyces gingen in diesen Roman ein. Joyce spaltet sich in zwei Figuren auf: Stephen Dedalus und Leopold Bloom, ersterer repräsentiert den jungen Joyce, Bloom den reifen.
Molly Bloom hat ihr Äußeres von verschiedenen attraktiven Frauen aus Joyces Umfeld, ihr Innenleben hat sie von Nora Barnacle, seiner späteren Frau.
Einmal zeigte der Schriftsteller auf einen betrunkenen zwanzigjährigen Arbeiter: die „1000 Komplexitäten“ in seinem Kopf, sagte er, wolle er darstellen.
Richard Ellmann: „Das Thema des Ulysses ist einfach, und Joyce führt es mit den Charakteren von Bloom, Molly und Stephen aus. Unscheinbare Güte überwindet die gewissenlose Gewalt.“ Aber es gibt noch viele andere Themen bis hin zur Musik. Anfang 1918 liest Joyce seiner Gefährtin Nora Auszüge aus dem Roman vor. Sie findet die Sprache scheußlich und ermutigt ihn nicht zum Weiterschreiben. Joyce leidet unter dem Desinteresse seiner Partnerin, aber es lässt sich nicht ändern.
Einen Musik-Kommilitonen seines Sohnes befragt er immer wieder zu dessen „Ulysses“-Lektüre. Der gesteht schließlich: „Ganz offen, Mr. Joyce, ich muß Ihnen sagen, daß ich´s nicht verstehe.“ Der Autor trägt es mit Fassung: „Nur ein paar Schriftsteller und Lehrer verstehen es. Der Wert des Buches liegt in seinem neuen Stil.“ Die Joyce-Biographie von Ellmann ist nicht nur viel verständlicher, sie ist auch spannend geschrieben. Ihren Gegenstand behandelt sie mit sanfter Ironie.
Warum sollte man Joyce lesen? Der große Psychologe C.G. Jung schrieb dem Autor: „Ihr Buch hat mir als Ganzes endlose Mühen bereitet, und ich habe drei Jahre lang darüber gebrütet, bis es mir gelang, mich hineinzufinden. Aber ich muss Ihnen sagen, daß ich Ihnen und Ihrem gigantischen Werk zutiefst dankbar bin, weil ich daraus viel gelernt habe.“
In seiner typischen Bescheidenheit stellte Joyce einmal fest: „Ich habe entdeckt, dass ich mit der Sprache alles machen kann, was ich will.“ Er musizierte mit den Wörtern. Er war eines der größten Genies der Sprache.
Richard Ellmann: James Joyce. Revidierte und ergänzte Ausgabe. Suhrkamp 1999.