Es ist ein fesselndes, perspektivenreiches Buch über Bücher, ihre Macht und Magie. Das Programm wird am Anfang des schmalen Bandes formuliert: „Ich habe Lust aufzuschreiben, was Bücher von Frauen mit mir und meinem Leben gemacht haben.“ Die Autorin, Elke Heidenreich, ist überzeugt: „Lektüre und Persönlichkeitsentfaltung bedingen einander, das Lesen durchdringt das Leben.“ Das deutet schon an: das Buch ist auch eine Autobiographie, eine Lebensbeschreibung anhand von Büchern. Wenn Heidenreich über ihre Lektüre schreibt, schreibt sie zugleich über ihr Leben.
Heidenreich berichtet ausführlich über ihre frühe Lektüre: Enid Blyton etwa: Beeindruckender als die einzelnen Bücher ist ihre Produktivität: Sie schrieb 750 Romane und über 10 000 Kurzgeschichten. Wenn sie kritisiert wurde, sagte sie, Kritik von Lesern über 12 Jahren interessiere sie nicht. Heidenreich wundert sich heute, was sie als Kind und Jugendliche alles mit Begeisterung gelesen hat. Vieles bezeichnet sie heute als Schwulst („Nesthäkchen“, „Angélique“).
Aber dann stößt sie mit zwölf Jahren auf „Die wunderbare Reise des kleinen Nils Holgersson mit den Wildgänsen“. „Diese Geschichte war meine erste wirkliche Literatur.“ Sie liest sie wie Musik. Beabsichtigt hatte Selma Lagerlöf ein Buch für Schulkinder, es wurde zu einem Werk der Weltliteratur, ein umfassendes Panorama von Schweden.
Heidenreich schreibt immer auch über das Leben der schreibenden Frauen. Selma Lagerlöf etwa, die erste Frau, die den Nobelpreis für Literatur erhielt, half nach 1933 deutschen Juden nach Schweden zu fliehen, darunter die große Lyrikerin Nelly Sachs. Von Anne Golon erzählt sie, dass sie auf dem Fahrrad vor den einmarschierenden Nazis floh, von Toulon nach Spanien.
Über Toulons 12 bändigen Roman „Angélique“, einen Weltbestseller: „Was für ein gigantischer Schwulst und Schwachsinn, und andererseits, wie schön, so eine schillernde Romanze vor historischen Kulissen.“
Sie verklärt die frühe Lektüre nicht, aber sie kann sie auch nicht vergessen. „Ich habe oft das Gefühl, dass mich frühe Kindheitslektüren und ihre versteckten Botschaften durch mein ganzes Leben begleiten.“
Sie liest sich aus einem trostlosen Leben hinaus. In den Büchern findet sie, was ihr im Leben fehlt: Familie, Freunde, Geborgenheit. Die Literatur hat eine „tröstende, lebensrettende Funktion“. Das würde Heidenreich nie vergessen.
Literatur ist eine Gegenwelt zur Misere des Alltags. Heidenreichs Familie bewohnt drei Zimmer, eines wird vermietet, weil man auf das Geld angewiesen ist, im Wohnzimmer schlafen die Eltern, auf dem Küchensofa die kleine Elke.
Was liest die Mutter? Sie liebt „Dreizehnlinden“ von Friedrich Wilhelm Weber, ein Versepos, das sie auswendig kennt. Wenn Heidenreich das Leseexemplar der Mutter mit deren Kommentaren in die Hand nimmt „zeigt sich mir darin die verletzte Seele meiner Mutter, ihr Hunger nach Liebe, Schönheit, Poesie, den sie in ihrem harten Leben voller Enttäuschungen nicht stillen konnte, aber wenigstens an ihr Kind wollte sie diese Liebe zu den Versen, zur Natur, zu Büchern, zur Musik weitergeben“.
Gedichte wurden tatsächlich „zum rettenden Geländer“, vor allem die von Gottfried Benn.
Heidenreich verschweigt aber nicht die Schattenseiten des Lesens: „die Geschichte der Entfremdung von seiner Umgebung, den Verlust sozialer Wirklichkeit, die Einsamkeit des Lesenden.“ (Peter Turrini)
„Lesen“, so Heidenreich, „ist eine einsame, stille Tätigkeit.“ Sie kommt ihr mit großer Leidenschaft nach: “Zum Lesen keine Zeit? Keine Zeit für dieses Glück? Ich fasse es nicht.“
Sie antwortet Turrini: „Man kann sich beim Lesen der Welt entziehen durch Flucht ins Buch, man kann aber auch lesend erst die Welt entdecken.“
„Meine intensivsten poetischen Leseerlebnisse“, verdankt sie einem Märchendichter: Hans Christian Andersen.
Das Germanistikstudium finanziert sie durch diverse Tätigkeiten, früh morgens (ab fünf Uhr) arbeitet sie als Briefträgerin, abends hat sie zwei Putzjobs. Nachts liest sie. Später entdeckt sie eine anspruchsvollere Tätigkeit: schreibt sie Seminararbeiten für faulere oder dümmere Kommilitonen, 150 DM pro Auftrag.
Das „genussvolle Lesen“ habe sie auf der Universität nicht gelernt, „nur den Umgang mit Texten“.
Anfang der 70er Jahre findet sie zum Radio. Sie macht alles, neben Theaterkritiken und Buchrezensionen auch Interviews mit Heroen der Popkultur, Heintje, Udo Lindenberg oder Udo Jürgens. Sie ist äußerst fleißig, drei bis vier Bücher bespricht sie in der Woche.
Für Heidenreich gibt es viele zentrale Autorinnen: Ruth Klüger („Frauen lesen anders“), Christa Wolf („Die Bücher von Christa Wolf haben mich lange und nachhaltig beschäftigt“), Virginia Woolf („Machen Sie Ihrem Autor keine Vorschriften, versuchen Sie, er selbst zu werden“), Hannah Arendt (sie bietet „immer wieder eine aufregende und neue Sicht auf Gewohntes“), Dorothee Sölle („Theologisches Nachdenken ohne politische Konsequenzen kommt einer Heuchelei gleich“). Simone de Beauvoir (ihr berühmtester Satz: „Man kommt nicht als Frau zur Welt, man wird es.“), Elfriede Jelinek („Mir kommt es vor, als hätte ich immer schon gelesen.“)
„Ich war eine Schwarze“ von Grace Halsell über den alltäglichen Rassismus hat sie „tief beeindruckt“. Immer wieder gerät Heidenreich ins Schwärmen.
Über Susan Sontag: „Von ihrem ersten Buch an hat sie mich ergriffen, beeindruckt, begleitet.“.
Marlen Haushofers „Die Wand ist eines der für mich wichtigsten Bücher überhaupt.“
Katherine Mansfield bekannte: „Ich lebe, um zu schreiben.“ Lebt Heidenreich, um zu lesen? Sie stellt diese Frage selbst. Ihre Antwort: „Ich weiß, ich habe auch gelebt.“
Sie sieht sich weniger als Literaturkritikerin denn als Literaturvermittlerin. Sie will sich nicht durch Verrisse profilieren, sondern für Bücher begeistern. Gleichwohl weiß sie Kitsch und Trivialität zu erkennen und zu benennen.
Richtig berühmt wurde sie durch´s Fernsehen. Die Sendung mit dem schlichten Titel „Lesen!“ erzielt hohe Einschaltquoten. Bald ist von der „Literaturpäpstin“ die Rede. Ihr Ehrgeiz war es, Wenig- oder Nichtleser zu erreichen. Das ist ihr „weitgehend gelungen“.
Die Männerliteratur ignoriert sie nicht: Sie liest Günter Grass und Martin Walser, die großen Amerikaner, wie Philip Roth und John Updike. Don DeLillo ist für sie einer der bedeutendsten Autoren der Gegenwart, sie geht auf sein Meisterwerk „Unterwelt“ ein. Heidenreich liest also auch Männer.
Ein eigenes Kapitel ist ihnen gewidmet: Harry Mulischs „Die Entdeckung des Himmels“ und „Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins“ von Milan Kundera sind in ihren Augen Bücher für Männer. „Für Frauen eine wirkliche Prüfung, das zu lesen. Männer sind in der Regel begeistert.“
Aber am Ende ihres Buches muss sie doch noch dankbar auf einen Mann zu sprechen kommen.
„Das Schönste, was ich über das Glück des Lesens gefunden habe, hat ein Mann geschrieben.“ Maxim Gorki „begriff, dass fast jedes Buch mir ein Fenster in eine neue unbekannte Welt öffnete“.
Sie zählt bedeutende Werke weiblicher Autoren auf: Marlen Haushofers „Die Wand“, Ljudminla Ulitzkajas „Die Lügen der Frauen“ oder Siri Hustvedts „Der Sommer ohne Männer“: Kein Mann, so Heidenreich, hätte diese Bücher schreiben können. Frauen schreiben also anders. Eine andere Frage hätte Heidenreich schärfer beleuchten können: Inwiefern lesen Frauen anders?
In diesem Artikel wurde viel zitiert. Das ist kein Zufall. „Hier geht’s lang!“ ist ein Buch voller Zitate, ein Zeugnis immenser Belesenheit. Häufig zitiert Heidenreich den Beginn eines Buches, auf den es ja ankommt.
Es ist kein dickes Buch, aber ein dichtes, wichtiges, anregendes. Nur eine Frau konnte es schreiben.
Elke Heidenreich: Hier geht’s lang! Mit Büchern von Frauen durchs Leben. Eisele-Verlag, 2021