Eine einfache, komplizierte Geschichte – Peter Stamms Debütroman „Agnes“

Viele junge Menschen haben diesen Roman gelesen, allerdings nicht freiwillig: „Agnes“ war von 2014-2018 Sternchenthema im Deutschabitur in Baden-Württemberg. Den Autor wird es gefreut haben.

Für seine ersten drei Romane fand Peter Stamm keinen Verlag. So wurde der vierte, „Agnes“, zum Debütroman. Das war im Jahr 1998.

Die Geschichte ist dünn: In einer überheizten Bibliothek in Chicago begegnen zwei junge Menschen einander: ein Buchautor aus der Schweiz und eine Physik-Doktorandin aus den USA. Der Ich-Erzähler arbeitet an einem Buch über Luxuseisenbahnwagen. Sie hat eine karge Kurzgeschichte geschrieben. Eine Begegnung unter Büchern, im Zeichen der Literatur. Die Literatur wird im Romanverlauf auch eine immer bedeutendere Rolle spielen. Er soll über ihr Leben schreiben. Sie ist mit seinen Entwürfen oft nicht zufrieden. Er ist ein Narziss, der aus seiner Umgebung Literatur macht. Eine Freundin hat Schluss gemacht, weil sie sich in einer seiner Erzählungen wiederfand. Die Glasscheibe wird in einer Szene zum Spiegel, statt der Landschaft nimmt der Protagonist nur sich selber wahr.

Es ist ein verspieltes und verspiegeltes Buch voller Geschichten, realer und erdachter. Manche Geschichten enthalten in sich wieder Geschichten. Während die Liebesromanze zwischen dem Autor und Agnes andauert, beginnt der Autor auf Wunsch seiner Geliebten, ihre Geschichte aufzuzeichnen. Diese Geschichte gewinnt ein Eigenleben. So ist dieser kurze Roman eine Etüde über das Verhältnis von Kunst und Leben, Fiktion und Wirklichkeit. Spätestens am Ende des Romans bemerkt man, dass man ihn auf mehrere Weisen lesen kann.

Das schmale Buch ist reich an fiktiven Welten: Die Figuren bewegen sich in Traum, Buch, Film, Erzählung.

Als Agnes schwanger wird, löst der Erzähler sich von ihr. Schnell lässt er sich auf eine Affaire mit Louise ein. Sie sagt lachend: „Du liebst mich nicht, ich liebe dich nicht, es ist nichts dabei. Hauptsache wir amüsieren uns.“ Spaß scheint den Figuren das Wichtigste, man verliebt sich, man trennt sich, es ist nichts dabei. Das Amüsement steht im Vordergrund, fähig zu dauerhaften Beziehungen scheinen die merkwürdig ungerührten Figuren nicht. Man sollte das dem Autor Peter Stamm nicht vorwerfen.

„Ungefähre Landschaft“ lautet ein Buchtitel von Stamm. Vieles ist bei Stamm ungefähr, wird nur angedeutet. Das macht seinen Charme aus.

Es ist eine alte Geschichte: Nichts an diesem Buch ist neu. Die ersten Blickwechsel, die Unruhe… Um die Liebesgeschichte wird wenig Aufhebens gemacht. Auch den Ton meint man zu kennen: Er erinnert an die amerikanischen Minimalisten wie z. B. Raymond Carver. Stamm verbirgt seine Ahnherren nicht, einer wird gegen Ende des Buches genannt. Agnes hat „Farewell to arms“ („In einem anderen Land“) im Kino gesehen, der Erzähler schenkt ihr die Buchausgabe. Sie besuchen den Ort, wo Hemingway aufgewachsen ist. Hemingways Magie der einfachen, kurzen Sätze, der schlichtesten Worte hat Stamm beeinflusst. Der Schweizer kultiviert eine makellose, stille Prosa: „Der Regen hatte aufgehört, aber die Straßen waren noch nass.“ Diesen Satz wird Stamm in seinem Erzählband „Blitzeis“ wörtlich aufgreifen, der ein Jahr später erschien. Mit „Agnes“ war noch längst nicht alles gesagt.

Peter Stamm: Agnes. Roman. Fischer Taschenbuch, 2009.

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