Dieser 1200-Seiten-Roman provozierte Superlative: „Anna Karenina ist ein vollkommenes Kunstwerk“, urteilte Fjodor Dostojewski. Vladimir Nabokov bezeichnete „Anna Karenina“ als „eine der größten Liebesgeschichten der Weltliteratur“. Tolstoi habe in ihr den „höchsten Gipfel schöpferischer Vollkommenheit“ erreicht.
Ein anderer Meister des Romans, Thomas Mann, bezeichnete „Anna Karenina“ als „größten Gesellschaftsroman der Weltliteratur“. In der Gesellschaft sind die Figuren in ihrem Element. Das äußere Geschehen ist minimal, statt dessen wird das Seelenleben der Figuren ausgeleuchtet: Psychologie statt Handlung. Trotzdem ist es ein fesselnder Roman. Vor einigen Jahren ist er in einer sehr frischen Übersetzung erschienen, die einen neuen Zugang zu diesem Klassiker eröffnet.
Der Roman beginnt mit einem Ehebruch, und das ist auch das wichtigste Thema: „Drunter und drüber ging es bei den Oblonskis.“ Das ist der zweite Satz. Die Frau erfährt vom Seitensprung ihres Mannes, er hat sie mit dem Dienstmädchen betrogen. Weil sie umsichtig reagiert, kommt es nicht zur Katastrophe. Viele Ehen in diesem Roman sind gefährdet, fast alle sind krisengeschüttelt. Auch in der Familie Anna Kareninas geht es drunter und drüber. Anna Karenina ist unglücklich verheiratet. Ihr Mann konzentriert sich ganz auf seine Karriere.
Da tritt Wronsky, ein fescher Offizier, in ihr Leben. Sie verliebt sich Hals über Kopf in ihn und verlässt Mann und Kind. Aber auch die neue Verbindung ist bald von Sorgen überschattet. Sie fürchtet die Untreue des Partners. Das berühmteste an diesem großen Roman ist der erste Satz. „Alle glücklichen Familien sind einander ähnlich, jede unglückliche Familie ist unglücklich auf ihre Weise.“
Drei Familien stehen im Mittelpunkt des Romans, zwei wurden schon erwähnt. Wichtigste männliche Figur ist Ljewin, der viele Züge Tolstois trägt. Er hat sich heftig in Kitty verliebt, die ihn zunächst abblitzen lässt. Nach rund 600 Seiten finden sie zusammen, es wird eine Traumhochzeit. Ljewin empfindet eine Nähe zu den Bauern, die auf seinen Gütern arbeiten, und setzt sich für sie ein.
Thomas Mann war ein leidenschaftlicher Tolstoi-Leser, der von dem großen Russen viel lernte. „Anna Karenina“ sei ein Werk, „so glücklich, so packend, so aus einem Guß, so vollendet im Großen und Kleinen“, schwärmte Mann. Eine Lektüre für lange Winterabende.
Lev Tolstoi: Anna Karenina. Roman. Übersetzung von Rosemarie Tietze. DTV, 2011