Der Schriftsteller Michael Kleeberg – ein Porträt

Michael Kleeberg war neun Jahre alt, als er nach Böblingen kam. Dort verbrachte er prägende Jahre und setzte der Stadt später „als modernster Stadt der Welt“ ein Denkmal, in seinem Debüt-Roman „Proteus der Pilger“. Heute sagt er: „Eigentlich steht in diesem Buch alles drin.“ Es handelt von den Anfängen eines Schriftstellers.

Der junge Kleeberg, geboren 1959 in Stuttgart, fühlte sich als Außenseiter: Als höchste Werte in seiner Jugend galten Körperkraft und Sportlichkeit, Mut und Kameradschaftlichkeit, Eigenschaften, die er nicht besaß. „Das machte jemanden wie mich, mit vielerlei Ängsten und noch mehr Phantasie gesegnet, zu einem Rhetoriker und Erzähler, was als Angeberei ausgelegt wurde.“ In Böblingen wurden die Fundamente der Schriftstellerlaufbahn gelegt.

In den unteren Klassen des Albert-Einstein-Gymnasiums las Kleeberg noch nicht Thomas Mann oder Hemingway, sondern die „Bravo“ oder „Spiderman“. Etwas später erzählte er der Deutschlehrerin voller Stolz, er habe „Vom Winde verweht“ gelesen. Die Lehrerin sagte nur: „Kleeberg, des isch Trivialliteratur!“

Kleeberg war siebzehn, als er die ersten Kurzgeschichten schrieb, auf Anregung eines Freundes. „Nach der dritten oder vierten im Januar oder Februar 77 stand für mich fest, dass ich das mein Leben lang machen wollte.“ In der Folge entstanden etwa 100 short stories. 1983 in Rom hatte er genügend Geschichten zusammen, um ein Buch daraus zu machen, das erschien dann pünktlich zum 25. Geburtstag, Titel: „Böblinger Brezeln“. Es war die Geburtsstunde des Autors Michael Kleeberg: „Damit durfte ich mich sozusagen offiziell ´Schriftsteller´ nennen, aber bis ich davon halbwegs leben konnte, sind nochmal gut zehn Jahre vergangen.“ Als er mit Schreiben begann, war sein „Gott“ Ernest Hemingway, den er genau studierte. In Rom entdeckte Kleeberg die deutsche Literatur wieder, die ihm die Schulmeister im Deutschunterricht verleidet hatten. Später kamen weitere Größen hinzu: Tolstoi und Thomas Mann („als Architekten komplexer Romangewebe“). Noch später die „Verjazzung des europäischen Bildungsromans“ durch John Updike. Kleeberg las sich durch Länder und Epochen, „ein rechter Gemischtwaren-laden der Jahrhunderte und Nationen“ kam da zusammen. Auf Kleebergs Belesenheit weisen die Kritiker immer wieder hin. Die größte Entdeckung, ja eine Offenbarung war Marcel Prousts „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“, ein unbändiger, siebenbändiger Roman von 4000 Seiten Umfang, eine maßlose Feier der Erinnerung, eines der faszinierendsten Romanwerke des 20.Jahrhunderts. Lange hat sich Kleeberg darauf vorbereitet. 13 Jahre hat er in Paris gelebt (als Mitinhaber einer Werbeagentur) und damals die ganze französische Literatur durchgearbeitet. Dort entschloss er sich auch zu einer Neuübersetzung der ersten beiden Proust-Bände. – Warum die strapaziöse Neuübersetzung dieses schwierigen, ausufernden Werks? Kleeberg: „Ich habe meine Begeisterung über die „Recherche“ mit einem Kollegen teilen wollen, der sie nur in der alten deutschen Übersetzung kannte. Dabei kam heraus, dass wir über zwei vollkommen verschiedene Bücher redeten. Ich stellte fest, dass die alte Übersetzung voller Fehler und Unverständlichkeiten und moralischer Selbstzensur war und beschloss, einmal zu versuchen, es selbst besser zu machen.“ Die übrigen Bände des monumentalen Zyklus wird er nicht übersetzen: das würde ihn 10 Jahre seiner Lebenszeit kosten, und diese Zeit hat er nicht. Statt dessen schreibt er erschütternde Romane. Das erste Kapitel seines erwähnten Debütromans „Proteus der Pilger“ trägt den Titel: „Die modernste Stadt der Welt“, zwischen Daimler und IBM gelegen. Gemeint ist Böblingen, der Name fällt allerdings nicht, dafür begegnet man Namen wie Hulb oder Tannenberg, Stadtteile der Kreisstadt. Hagen Seelhorst, der Romanheld, will gleichzeitig die Stadt Böblingen und die schöne Schulkameradin Germania erobern. Das kann er nur mit Wörtern: „meine Worte mußten ihr unter die Haut gehen….“ Sein Ziel: Er möchte die ganze Stadt mit Wörtern neu erschaffen, damit sie die Seine wird. Ein wichtiger Schauplatz der Böblingen-Handlung ist das Freibad. Es ist der Schauplatz einer Niederlage. Denn dort ragt ein Sprungturm auf, und Hagen wagt nicht, vom Zehner zu springen. Er fühlt sich als Außenseiter. Er hat andere Vorzüge: „Wenn ich auch von keinem Zehner der Welt sprang, so machte es mir doch nichts aus, kopfüber ins Gewoge der Sprache zu tauchen.“ Dieser Roman handelt also auch von der Geburt des Schriftstellers Michael Kleeberg. Er wird die Stadt mit Wörtern neu erschaffen, in diesem Roman. Von Böblingen geht es nach Hamburg, die Parks sind größer als die ganze Kreisstadt. Hagen ist, wie viele Helden Kleebergs, auf der Suche: nach Sinn und seinem Platz in der Gesellschaft. Nach vielen Jahren, einem Politik-Studium, kehrt Hagen in die Kindheitswelt zurück, es ist eine schockierende Begegnung mit Böblingen. Eine Freundin sagt: „ Es ist hier nichts mehr, wie´s war. Vielleicht hattest du gar nicht so unrecht fortzugehen.“ Hagen, der Pilger, bleibt nicht, sondern reist nach Italien weiter. Auch „Proteus der Pilger“ ist voller intensiver Momente, die sich einbrennen, es finden sich eindrückliche Szenen, manche beglücken, manche tun weh. Kleebergs Gesamtwerk ist umfangreich: Es umfasst neben den eigenen Erzählwerken auch 18 Übersetzungen aus dem Englischen und Französischen. Ein Höhepunkt ist sicher Kleebergs Roman „Ein Garten im Norden“ aus dem Jahr 1998, der mit großer Leichtigkeit beginnt. „Manche Geschichten kann man ganz einfach erzählen, sie erzählen sich eigentlich selbst.“ Kleebergs Sprache blüht üppig wie der Garten. Die „Welt“ bezeichnete das Buch als „Roman der Berliner Republik“. Das Werk eines Meisters ist „Das Amerikanische Hospital“, ein aufwühlender Parisroman, in dem Kleeberg seine Pariser Zeit verarbeitet. Heute lebt Kleeberg in Berlin. Aber er gesteht: In der Landschaft um Berlin „kann ich physisch nicht mehr heimisch werden“. Die süddeutsche Landschaft, mit Laubwäldern, Hügeln, Flüssen, der schwäbischen Alb und dem Schwarzwald sei ihm näher. Ist die Tätigkeit als Schriftsteller eigentlich ein Traumberuf? „Ja“, sagt Kleeberg ohne zu zögern: „Manchmal Wunschtraum, manchmal Albtraum, aber jedenfalls immer Traum.“ Kleeberg ist eine der wichtigsten Stimmen der deutschen Gegenwartsliteratur.

Michael Kleeberg: Böblinger Brezeln. Stories, 1984. Gebrauchte Ausgaben bei Amazon.

Michael Kleeberg: Proteus, der Pilger, Leben, Tod und Auferstehung des Hagen Seelhorst, erzählt von ihm selbst, 1993. Gebrauchte Ausgaben bei Amazon.

Michael Kleeberg: Ein Garten im Norden. Roman. Penguin Taschenbuch Verlag, 2018. Der Roman ist zuerst 1998 erschienen

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