Brigitte Reimann war eine eigenartige und einzigartige Schriftstellerin: Ihre Sprache war einfach und emotional. Tiefe Einblicke in ihre extremen Gefühlswelten vermitteln die Tagebücher. Das Journal von 1964 beginnt mit der Schilderung einer Silvesterfeier. Die junge Schriftstellerin ist umgeben von lauten und lustigen jungen Leuten, sie tanzt und trinkt Sekt und ist die ganze Zeit über traurig.
So beginnt ein bedrückendes Buch, das sich aber spannend wie ein Roman liest. Die Silvesterfeier zeigt es: Reimann macht mit, gehört aber nicht dazu. Sie steht als Beobachterin neben sich.
Die Sehnsucht nach Liebe, die Gier nach Leben bestimmen diese Biographie. Mit höchster Intensität, wie im Rausch lebt die Schriftstellerin ihr Leben. Sie stellt fest: Wenn sie etwas erlebt, ist sie schon dabei, es aufzuschreiben. In zweifacher Hinsicht ist sie also süchtig nach Leben: als Frau und als Schriftstellerin. Sie wird umschwärmt von Männern, sie weiß, nicht wegen ihrer Bücher, sondern wegen ihres Aussehens. Hoch dekorierte Funktionäre tätscheln unterm Tisch ihre Knie. Sie findet das „zum Kotzen“.
Mit 30 Jahren ist sie eine reife Schriftstellerin, aber als liebende Frau ein Kind: eine ungefestigte, schwärmerische 16-Jährige. Niemand verliebt sich so schnell wie sie. Schnell wechseln ihre Stimmungen. Himmel hoch jauchzend zu Tode betrübt, Euphorien wechseln sich mit Depressionen ab. Sie kann sich nicht dauerhaft binden. Sie ist noch nicht vierzig und schon drei Mal geschieden. Da ist die große Liebe: Sie denkt unausgesetzt an ihn, kann kaum einen Tag ohne ihn aushalten, und plötzlich ist Schluss. Immer wieder die Abschiede von Männern. Sie ist eine starke schwache Frau. Ein Schriftsteller und ein Regisseur analysieren sie: „ich sei eine fabelhafte Schriftstellerin, und vielleicht, wahrscheinlich würde ich mal sehr gute Bücher schreiben, aber glücklich würde ich nie sein…“ (19. 9. 1969)
Vor allen in ihren Tagebüchern kann Brigitte Reimann sagen, was sie denkt und fühlt. „Manchmal macht es mich zornig, daß ich kaum ein Privatleben habe, mir selbst nicht gehöre.“ (4. Juli 1964).
Brigitte Reimann gelingen schöne Sätze in Moll. Im Tagebuch erfährt man viel über Arbeit an „Franziska Linkerhand“, ihrem Hauptwerk. Wenn sie nicht vorankommt, ist sie verzweifelt. Immer wieder Ausbrüche: „Halb verrückt vor Nervosität.“ (14. 5. 1964). In „Franziska Linkerhand“ setzt sich Reimann mit dem DDR-Alltag auseinander. Zehn Jahre arbeitete Reimann an ihrem Roman, konnte ihn aber nicht abschließen.
Emotional beginnt er: „Ach Ben, Ben, wo bist du vor einem Jahr gewesen,wo vor drei Jahren? Welche Straßen bist du gegangen, in welchen Flüssen hast Du gebadet…?“ Dieser Ben ist die Obsession der Ich-Erzählerin, die einiges mit ihrer Erfinderin gemein hat. Für diesen literarischen Ben gibt es ein reales Vorbild: „Ich habe eine literarische Figur geliebt“, notiert Brigitte Reimann im Tagebuch (11. September 1969).
Reimann, geboren 1933, könnte heute noch leben. Mit 40 Jahren stirbt Brigitte Reimann. Nächstes Jahr stehen zwei Gedenktage an: der 90. Geburtstag und der 50. Todestag.
Die Tagebücher dokumentieren nicht nur den schwierigen, oft deprimierenden Alltag in der DDR, sondern vor allem das wilde traurige Leben der Brigitte Reimann.
Brigitte Reimann: Alles schmeckt nach Abschied. Tagebücher 1964-1970. Aufbau Verlag 1998.