Astrid Lindgren. Ihr Leben. (Jens Andersen)

Astrid Lindgren war ein Phänomen:

Keine andere Kinderbuchautorin hat so viele markante, unverwechselbare Gestalten geschaffen. Michel aus Lönneberga, Kalle Blomquist, Ronja Räubertochter, die Brüder Löwenherz, Pippi Langstrumpf, die Kinder von Bullerbü, Karlsson vom Dach und viele andere. Eines haben sie gemeinsam: Sie sind starke Charaktere.

Wie nähert man sich einer Frau, die schon zu Lebzeiten eine Legende war, die aber gleichzeitig von sich sagte, sie sei „so alltäglich, wie man nur sein kann“? Jens Andersen beweist in seiner großen Biographie Einfühlungsvermögen und porträtiert die Erzählerin im Kontext ihrer Zeit. Wie ihre Figuren so war auch Astrid Lindgren ein sehr selbstbewusster junger Mensch: Sie schnitt sich als Mädchen, ein Akt der Rebellion, ihre langen Haare ab. Schon früh, in ihren Schulaufsätzen, fielen ihr Sprachgefühl und Erzähltalent auf. Deshalb schlug sie die Laufbahn einer Journalistin ein.

Sie ist noch nicht zwanzig, da wird sie Mutter. Der Vater ist ihr Vorgesetzter, der Chefredakteur ihrer Zeitung, der noch verheiratet ist, ein Skandal. Sie muss die kleine Stadt verlassen und zieht nach Stockholm. Das Kind Lasse kommt in Kopenhagen zur Welt und wird in eine Pflegefamilie gegeben. Nach drei Jahren holt Lindgren den Sohn zu sich, sie bekennt sich zu ihm. Stolz zeigt sie sich mit ihm in ihrer kleinen Stadt. 1939 beginnt der zweite Weltkrieg. In jenen Jahren erfindet sie Pippi Langstrumpf, ihre erste große Figur. „Ich bin unendlich gern allein“, sagt die Vierzigjährige. Weihnachten 1944 schreibt sie: „Eines habe ich jedenfalls gelernt – will man glücklich sein, muss es aus einem selbst kommen und nicht von einem anderen Menschen.“

Ein Jahr später: „Am glücklichsten bin ich, wenn ich schreibe.“ Im Brief vom April 1954: „Richtig glücklich war ich nur als Kind, vielleicht schreibe ich deshalb so gern Bücher, in denen ich diesen wunderbaren Zustand wieder erleben darf.“ Dass sie ein liebevoller Mensch ist, kann man ihren Büchern und ihrem Leben entnehmen.

Im Oktober 1978 erhält Lindgren den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels. Ihre Dankesrede trägt den Titel „Keine Gewalt“. Sie plädiert hier für eine gewaltfreie Erziehung und ist damit ihrer Zeit voraus. Ende der Siebzigerjahre existiert noch „das Elternrecht auf körperliche Züchtigung“. Trotz ihrer immensen Erfolge bleibt sie auf dem Boden: Obwohl Bestsellerautorin, arbeitet sie diszipliniert als Lektorin in einem Verlag. Sie redigiert Manuskripte. Ihre eigenen Texte brauchen keinen Lektor. Ein einflussreicher Literaturkritiker erklärte Pippi für „geistesgestört“ und ihre Schöpferin zu einer „fantasielosen Dilettantin“. Millionen von Leserinnen und Lesern sind anderer Meinung. Astrid Lindgren starb 2002 im Alter von 94 Jahren. Sie hinterließ 75 000 Briefe, die ihre Leser an sie gerichtet hatten. Auf sie geht Andersen am Anfang seiner lesenswerten Biographie ein.

Jens Andersen: Astrid Lindgren. Ihr Leben. DVA und Pantheon.

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