Trotz manch schlimmer Szene ist es ein wunderbares Buch, 1977 erschienen. Es ist jünger und älter zugleich. Jünger, weil die Sprache von heute ist: schnörkellos, präzise, natürlich. Älter, weil so abgeklärt, so ruhig, so klassisch erzählt wird, dass man an Goethes Autobiographie denkt: „Dichtung und Wahrheit“.
Wenn große Schriftsteller ihr Leben beschreiben, laufen sie meist zu Hochform auf. Keinen anderen Stoff kennen sie so gut wie ihr eigenes Leben. Sie müssen es nur noch aufschreiben. Das gilt auch für Canetti. Aber er macht mehr aus dem „Aufschreiben“. Seine Autobiographie hat die Qualitäten eines packenden Romans.
Der Titel „Die gerettete Zunge“ signalisiert es: Die Sprache spielt eine wichtige, nein, die zentrale Rolle. Es gäbe für einen Schriftsteller nichts Schlimmeres als den Verlust der Zunge.
Die gemeinsame Leidenschaft der Eltern: das Theater. Am liebsten unterhalten sie sich über unvergessliche Aufführungen am Wiener Burgtheater. Die Eltern verständigen sich dabei in einer Sprache, die der kleine Elias nicht versteht: in Deutsch. Es ist die Sprache der Liebe. Er ist davon ausgeschlossen. Erst mit sieben Jahren wird er die deutsche Sprache erlernen, am Genfer See, und er wird ein Meister der deutschen Sprache werden. Das erkennt man schon im ersten Band der Erinnerungen, „Die gerettete Zunge“.
Der zehnjährige Elias ist ein unersättlicher Leser. Er hat das Gefühl, aus vielen Figuren zu bestehen. Gleichzeitig nimmt er mit wachen Sinnen seine Umwelt wahr: Die frühen Schauplätze dieses Lebens: das bulgarische Rustschuk, Manchester, Genf, Wien, Zürich.
Canetti beschreibt sein Leben, seine Kindheit, aber die Autobiographie ist so dicht komponiert und so spannend erzählt wie ein meisterhafter Roman. Dabei ist die Autobiographie viel welthaltiger als der hermetische Roman „Die Blendung“.
Dieser erste Band ist voller großer unvergesslicher Szenen: Der Großvater verflucht Canettis Vater, weil der mit der Familie aus dem bulgarischen Rustschuk nach England zieht. Die nächsten Verwandten sind Kaufleute. Schon die Verachtung des junge Canetti gilt den Geldmenschen. Liebevoll und ausführlich porträtiert er dagegen andere Zeitgenossen, darunter die anregenden Lehrer. Hier wird der Menschenfreund Canetti sichtbar. Aber er war nicht nur das: Wikipedia schreibt: „Er galt – wie dies unter anderem seinen Briefen zu entnehmen ist – als schwieriger, eitler und jähzorniger Mann, gleichzeitig als egoistischer Frauenschwarm, der mit Geld nicht umgehen konnte.“
Zürich war für den jungen Canetti das Paradies. Hier verbrachte er seine glücklichsten Jahre. Die Mutter reißt ihn aus dieser Welt heraus: Sie fürchtet, ihr ältester Sohn werde hier zu einem lebensuntüchtigen Büchermenschen. Ein großes Gespräch steht am Ende des Bandes: Die Mutter wirft dem 16jährigen Hochmut und Weltfremdheit vor. „Ich war den Buchstaben und den Worten verfallen, und wenn das ein Hochmut war, so hatte sie mich beharrlich dazu erzogen.“
„Die gerettete Zunge“ endet mit der Verstoßung aus dem Paradies, damit wird der Bogen zur Verfluchung des geliebten Vaters geschlagen: mythische Ereignisse.
Vier Jahre nach Erscheinen des ersten Bandes seiner Autobiographie erhielt Elias Canetti den Literaturnobelpreis.
Elias Canetti: Die gerettete Zunge. Geschichte einer Jugend. Fischer Taschenbuch-Verlag, 2010.