Großstadtflaneure: Genazinos Regenschirm-Roman

Genazinos Held verdient mit Spazierengehen sein Geld. Für viele wäre das ein Traumberuf. Der Protagonist ist kein Postbote, er geht einer ungewöhnlicheren Tätigkeit nach: Er ist ein Tester für englische Luxus-Halbschuhe. Auf seinen Wanderungen durch die Stadt trägt er probeweise die Schuhe und verfasst dann detaillierte Gutachten über das Tragegefühl. Für jedes Gutachten erhält er 200 Mark, zunächst jedenfalls. Seine Lage wird bedenklich, als das Honorar drastisch reduziert wird. Am Ende des Romans findet er eine Anstellung als Lokalreporter einer kleinen Zeitung.

Er ist nicht der einzige Müßiggänger des Romans. Der Roman ist bevölkert von verkrachten Existenzen. Da ist Himmelsbach, der sich für einen bedeutenden Fotografen hält, dessen Bilder aber nicht einmal von einer drittklassigen Lokalzeitung gedruckt werden. Oder Susanne, die einst von einer glanzvollen Karriere als Schauspielerin träumte.

Genazinos Helden sind Flaneure und Reflexionsartisten, sie haben viel Zeit zum Nachdenken und verlieren sich in ihren Gedanken. Müßiggänger eben. Nichts wäre für sie wichtiger als eine Tätigkeit, die sie ganz ausfüllte … Wie viele Helden Genazinos lebt auch der Schuhtester an der Grenze. Unaufhörlich denkt er über die „Gesamtmerkwürdigkeit allen Lebens“ nach. Nachmittags findet eine Zerfaserung seiner Persönlichkeit statt. Er ist eine gefährdete Existenz: Im Zimmer der Frau, die ihn verlassen hat, breitet er herbstliche Platanenblätter aus.  

Das Flanieren in der großen Stadt ist sein Leben, aber es ist auch eine große Gefahr: „Es darf keinesfalls so weit kommen, dass ich mein Leben nur noch während des Umhergehens erträglich finde.“

In der Figur des Schuhtesters porträtierte und parodierte Genazino auch sich selbst.

Auf gewisse Weise verdiente auch der Schriftsteller Genazino mit Spazieren gehen sein Geld. Er war ein großer Flaneur. Es ging bei ihm nicht um Schuhe, sondern um Großstadt-Details. Kaum hatte er die Wohnung verlassen, fiel ihm schon etwas auf, eine Einzelheit für den nächsten Roman.

Genazino war ein glänzender Beobachter. Ein Mann verlässt das Redaktionsgebäude. Mit der zusammengerollten Zeitung schlägt er sich gegen den Oberschenkel.

Der Ich-Erzähler parodiert seinen Erfinder Genazino: „Meine Güte, wie mir dieser Zwang zum bedeutungsvollen Sehen auf die Nerven geht.“ Alles was er beobachtet, lädt er mit Bedeutung auf. Genazino oder seine Helden haben einen ganz eigenen Blick auf die Welt.

Genazinos schmale Romane, keiner ist dicker als 200 Seiten, enthalten sehr viel Welt, reflektieren sie aber gleichzeitig. Der Ich-Erzähler ist überzeugt, dass es sich nicht lohnt, die Welt ein ganzes Leben lang anzuschauen.

„Wir alle leben in Ordnungen, die wir nicht erfunden haben.“ Eine wichtige Ordnung ist die Sprache. Kein Schriftsteller hat sie erfunden. Aber er muss seinen Ton und sein Thema finden.

Wilhelm Genazino war ein formbewusster Autor. Seine kleinen Romane sind perfekt gebaut. Man kann sie immer wieder lesen, aus verschiedenen Gründen, wegen der unverbrauchten, leisen Schönheit der Sprache, der Klugheit der Aphorismen, der Kuriosität der Einfälle, der Originalität des Blicks. Eine leise, fast unmerkliche Ironie weht durch diesen Roman. Wie gesagt: Am Ende versucht sich der Schuhtester als Lokaljournalist. Und man begegnet Himmelsbach wieder: Er trägt inzwischen Prospekte aus.

Erschienen ist der Roman 2001, drei Jahre bevor Genazino den Büchnerpreis erhielt. Der Roman ist einer der besten jener Jahre. Deshalb wird er auf dieser Seite empfohlen. Genazino führte ein unauffälliges Leben, gehörte aber literarisch zu den ganz Großen. Er war ein glänzender Stilist mit einer geschliffenen, aphoristischen Sprache. Er kultivierte eine bessere Prosa als mancher Nobelpreisträger. In diesem Jahr wäre er 80 geworden. Im Dezember vor fünf Jahren ist Wilhelm Genazino in Frankfurt am Main verstorben.

Genazino war ein Meister der Kammermusik, und „Ein Regenschirm für diesen Tag“ ist ein wunderbares kleines Buch.

Wilhelm Genazino: Ein Regenschirm für diesen Tag. Roman. Hanser Verlag, 2001

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