Literatur als Heimat – Ulla Hahn erzählt von sich

Es ist ein ehrgeiziges Projekt: Vier dicke Romane hat Ulla Hahn aus ihrem Leben gemacht, genauer: aus den ersten 30 Jahren ihres Lebens. 2001 ist der erste Band erschienen: „Das verborgene Wort“. Dieser Roman wurde gleich mit dem deutschen Buchpreis ausgezeichnet. Beschäftigt hat das Projekt Ulla Hahn rund 20 Jahre, 1997 hat sie mit der Arbeit begonnen. Es waren keine vier Bände geplant, sondern nur ein Buch, und dieses Buch sollte deutlich schmaler sein. Die Autorin: „Hätte ich gewusst, dass noch drei weitere Bände folgen würden,  insgesamt fast 2.500 Seiten, ich hätte wohl gar nicht erst begonnen.“ Aber Ulla Hahn, die weltberühmte Lyrikerin, geriet ins Erzählen. 2017 fand das groß angelegte Projekt einen Abschluss mit dem Band „Wir werden erwartet“.

Wenn bedeutende Autoren über ihr Leben schreiben, kommen sie ins Erzählen. Nur drei Beispiele: Thomas Bernhard machte aus seiner Kindheit und Jugend fünf Bände. Hermann Lenz beschrieb sein Leben in neun Romanen. Noch radikaler ging Peter Kurzeck vor: aus seinem Jahr 1984 wollte er einen 12bändigen Zyklus destillieren, den er allerdings nicht beenden konnte. Ulla Hahns Epos ist welthaltiger und fesselnder.

Obwohl Ulla Hahn eine sehr genaue Erzählerin ist, langweilt sie nie. Sie fängt viel von ihrer Zeit ein. Ihrer Hauptfigur gibt sie den Namen Hilla Palm. Das ist ein Verweis auf eine andere bedeutende Lyrikerin: Hilde Domin. Nach ihrer Heirat hieß sie Hilde Palm.

Hilla Palm, das Arbeiterkind vom Rhein, möchte für mehr Gerechtigkeit in der Welt kämpfen, deshalb tritt sie der DKP (Deutsche kommunistische Partei) bei.

Aufgewachsen ist sie in Dondorf, einem (fiktiven) Nest am Rhein, in der Nähe von Köln, als Tochter eines ungelernten Arbeiters, in einfachsten Verhältnissen. Dem entspricht die einfache Sprache der Ich-Erzählerin. Früh entdeckt sie ihre Liebe zur Literatur. In Köln nimmt sie ein Germanistikstudium auf und wird voll von der Studentenbewegung erfasst. Davon handelte der dritte Band „Spiel der Zeit“, der hier schon vorgestellt wurde.

In der Lebensgeschichte der Zentralfigur wird Zeitgeschichte sichtbar. Die Themen der vier Romane: Heimat, Herkunft, Verlassen der sozialen Schicht, Aufstieg durch Bildung hat Ulla Hahn schon in ihren Gedichten behandelt. Aber um ihre eigene Geschichte zu gestalten, reichte die Gedichtform nicht mehr aus. Ganz bewusst verknüpft Hahn verschiedene Genres: Bildungsroman, Liebesgeschichte, historisches Epos, Autobiographie. Man erfährt viel über Zeitgeschichte: Bis in die 70er Jahre hinein durften Männer ihren Ehefrauen eine berufliche Tätigkeit untersagen, heute kann man sich das gar nicht mehr vorstellen.

Immer wieder kehrt die Ich-Erzählerin an den Rhein zurück, sie überlässt sich dem Strom, der Leser überlässt sich dem Erzählfluss. Ganz am Anfang des vierten Bands formuliert Hahn ihre Poetik: „das Unscheinbare zum Scheinen bringen“. Dieser Satz hätte auch von Wilhelm Genazino stammen können. Hilla Palm hat schreckliche Erfahrungen machen müssen, aber der letzte Band klingt versöhnlich aus. „Es ist so einfach, glücklich zu sein.“

Ein Höhepunkt des gesamten Epos ist Hillas Besuch in der DDR Mitte der 70er Jahre, der am Ende des vierten Bandes steht. Diese Reise hat sie sich immer gewünscht. Der Besuch desillusioniert die Idealistin allerdings: Die DDR ist keine gerechtere Gesellschaft. Obwohl die Produktionsmittel verstaatlicht sind, ist die Arbeit weiterhin entfremdet. Einem Fließbandarbeiter geht es in der DDR nicht besser als in der BRD, eher schlechter. Schlimmer: Eine kleine Gruppe von Menschen übt unkontrollierte Macht über eine große Menge von Menschen aus. Ein Abiturient wird bestraft, weil er in seiner Rede das berühmte Hölderlin-Gedicht zitiert hat, in dem von „Mauern“ die Rede ist. „Die Mauern stehn sprachlos und kalt.“ War das eine bösartige Anspielung auf die DDR? Hilla kann es kaum fassen. Sie löst sich von der DKP und vertraut sich der Sprache an. Die Literatur ist ihre Heimat.

Ulla Hahn: Wir werden erwartet. Roman. DVA München, 2017

Schreibe einen Kommentar