Unser Philosophielehrer schlug am Anfang des Kurses vor, gemeinsam den „Zauberberg“ zu lesen, denn der enthalte viel Philosophie. Ich argumentierte vehement dagegen, denn man will seinen Lieblingsroman nicht im Schulunterricht behandeln. Wir lasen dann den „Namen der Rose“, ein ganzes Jahr lang, auch ein philosophiehaltiger Roman.
In diesen Tagen wird der „Zauberberg“ 100 Jahre alt, Ende November 1924 erschien die erste Ausgabe, die Arbeiten an dem großen Zeitroman reichen bis in das Jahr 1913 zurück, und er wird noch immer gelesen.
Unser Deutschlehrer hatte diesen Roman zu meiner Schulzeit fünf Mal gelesen, Frido Mann, der Lieblingsenkel Thomas Manns, Jahrgang 1940, nur drei Mal. „Buddenbrooks“, der große Familienroman, stehe ihm näher, gestand Frido Mann neulich.
Zum Abitur schenkten die Eltern mir eine Reise nach Davos. Ein Bähnchen trug einen hinauf ins Hochgebirge. Es war genauso wie Thomas Mann es beschrieben hat. Natürlich hatte ich mein Exemplar des „Zauberbergs“ dabei.
Wie der Zufall so spielt: In Davos fand im Sommer 1994 ein „Zauberberg“-Kongress statt. Zwei Wochen lang hielten Thomas-Mann-Experten Vorträge zu dem großen Zeit-Roman. Die Veranstalter rechneten mit 300 Teilnehmern, es kamen 600! Deshalb hielt jeder Professor seinen Vortrag zwei Mal, einmal vormittags, einmal nachmittags. Den Band mit den Davos-Vorträgen aus dem Jahr 1994 habe ich mir natürlich gekauft, obwohl er nicht ganz billig war.
Die zwei Wochen in Davos waren eine schöne Zeit.
Jeden Mittag ging ich in einem anderen Restaurant essen. Ich fand die Preise akzeptabel.
Überteuert war nur die Jugendherberge am See: sieben Männer lagen auf einer Pritsche, wenn man sich umdrehte, lag man auf dem Nachbarn. Und das für 30 Franken.
Unvergessen war die Lesung in einer Kirche mit Gert Westphal, dem König der Vorleser. Er trug höchst virtuos das Kapitel „Humaniora“ vor. Jeder Figur gab er eine eigene Stimme.
Die Geschichte des „Zauberbergs“ ist schnell erzählt: Der angehende Ingenieur Hans Castorp aus Hamburg besucht seinen Vetter Joachim Ziemßen in Davos. Er will dort drei Wochen verbringen. Aus den drei Wochen werden sieben märchenhafte Jahre. Diese einfache, unerhörte Geschichte füllt 1000 Seiten.
Der „Zauberberg“ ist der Venusberg, der Hörselberg, der Brocken. Die Dämonen gehen darin um. Hans Castorp wird immer klüger. Er begegnet nämlich in Davos dem italienischen Schöngeist und Humanisten Ludovico Settembrini, der ihn drängt, so schnell wie möglich wieder abzureisen. Für ihn ist der „Zauberberg“ eine Art Unterwelt. Aber da ist auch noch die schöne Russin Clawdia Chauchat, die zunächst Castorps Unwillen erregt, weil sie mit den Türen wirft. Castorp verliebt sich in sie. Chauchat kommt ihm vertraut vor, er weiß nicht, warum. Später offenbart ihm ein Traum: sie sieht wie sein Schulkamerad Przibislav Hippe aus, in den Castorp sich einst verliebt hatte. Als Schüler hat sich Castorp von Hippe einen Bleistift ausgeliehen. Beim Fasching im Sanatorium kommen sich Chauchat und Castorp näher. Castorp leiht sich von der Russin einen Bleistift. Die langen Dialoge zwischen den beiden fand ich wundervoll. Sie werden teilweise auf Französisch geführt. Der Thomas-Mann-Biograph Klaus Harpprecht schrieb, dazu gäbe es keinen Anlass, schließlich spreche Chauchat Deutsch. Aber in der fremden Sprache kann Castorp mehr sagen als auf Deutsch. War Clawdia Chauchat ein Porträt seiner Frau Katia? Die Vornamen klingen ja ähnlich, und beide haben das Laster, an den Fingernägel zu kauen. Beide Frauen erinnern an Jugendlieben von Hans Castorp bzw. Thomas Mann.
Castorp duzt den Humanisten Settembrini wie es im Karneval üblich ist, Settembrini weist ihn scharf zurecht. Auch zu Chauchat sagt Hans Castorp „Du“. Er versichert ihr, dass er immer „Du“ zu ihr sagen werde. Ich fand das sehr eindrucksvoll. Dann reist Frau Chauchat ab.
Natürlich bleibt Castorp in Davos. Er wartet auf die Rückkehr der geliebten Frau.
Etwas später taucht ein Widersacher Settembrinis auf: der militante Jesuit Leo Naphta, ein Todesfanatiker, wie ich irgendwo gelesen habe. Die beiden verstricken sich in endlose Dispute, die voller Philosophie stecken. Vielleicht wollte deshalb unser Philosophielehrer den großen Zeit-Roman mit uns lesen. Hans Castorp ist ein aufmerksamer Zuhörer. Für ihn sind die uferlosen Diskussionen Bildungserlebnisse. Der Schriftsteller Uwe Johnson gestand, dass er bei seiner letzten „Zauberberg“-Lektüre diese endlosen Diskussionen überblättert habe.
Nach Jahren kommt Chauchat zurück, aber nicht allein. Sie ist die Begleiterin des Großhändlers Mynher Peeperkorn, eines grandiosen Trinkers und Stammlers. Der Nobelpreisträger Gerhart Hauptmann sah sich in dieser Figur porträtiert und ärgerte sich sehr.
Was will uns dieser Roman sagen? Diese Lehrerfrage konnte ich nach der Lektüre nicht beantworten. Romane wie dieser sind für solche Fragen nicht gemacht.
Hans Castorp begegnet der Liebe, der Krankheit und dem Tod. Er erteilt dem Tod eine Absage, kann sich aber nicht aus eigener Kraft aus der Welt des „Zauberbergs“ lösen. Die Befreiung muss von außen kommen. Es ist der Erste Weltkrieg. Am Ende, die beiden nehmen Abschied, bietet Settembrini dem Zögling Hans das „Du“ an. Auf den zerwühlten Schlachtfeldern des ersten Weltkriegs kommt uns Hans Castorp aus den Augen.
Heute überzeuge ihn dieser Schluss nicht mehr, gestand ein alter Thomas-Mann-Leser auf dem Davos-Kongress. Früher sei das anders gewesen.
Thomas Mann: Der Zauberberg. Roman. Limitierte Jubiläumsausgabe in Leinen. S. Fischer Verlag. 1120 Seiten, 58 Euro.